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Wie ein Flüstern im Wind

Erschienen am 15.06.2015
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783868275247
Sprache: Deutsch
Umfang: 556 S.
Format (T/L/B): 4 x 18.8 x 12.7 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Nashville, Tennessee, 1866. Seit dem schändlichen Tod ihres Mannes ist Olivia gesellschaftlich ruiniert. Deshalb willigt sie dankbar ein, als die beste Freundin ihrer Mutter ihr anbietet, bei ihr auf der berühmten Belle Meade Plantage zu leben. Schnell merkt sie: Sie ist auf Belle Meade mehr geduldet als gewollt. Doch so schnell lässt Olivia sich nicht unterkriegen. Sie will zeigen, was in ihr steckt. Genauso Riley, der zeitgleich mit ihr nach Belle Meade gekommen ist und ein dunkles Geheimnis verbirgt.

Leseprobe

Kapitel 1 10. Mai 1866 Nashville, Tennessee Olivia Aberdeen eilte mit gesenktem Kopf zu der wartenden Kutsche. Die Blicke der Leute auf der Straße bohrten sich wie rostige Nägel in sie, aber sie wandte den Blick ab, da die Passanten sonst Schuldgefühle in ihrem Gesicht gesehen und sie noch mehr für das verantwortlich gemacht hätten, was passiert war. Sie umklammerte den Briefumschlag in ihrer Hand und ließ sich von dem Diener in die Kutsche helfen. Trotz allem, was ihr verstorbener Mann den Menschen von Nashville - und ihr - angetan hatte, legte sie Wert darauf, sich gebührend zu benehmen. Obwohl ihr Herz weit davon entfernt war, den frühen Tod von Charles Winthrop Aberdeen zu betrauern, trug sie die angemessene Witwenkleidung, die von einer Frau ihres Standes erwartet wurde. Oder besser gesagt, ihres früheren Standes. Sobald sie in der Kutsche Platz genommen hatte, atmete Olivia tief durch. Zum ersten Mal seit fünf Jahren. Sie wusste, dass das, was sie fühlte, falsch war. Einer Frau, die erst seit einer Woche verwitwet war, sollte nicht nach Tanzen zumute sein. Aber Gott stehe ihr bei, genau das hätte sie am liebsten getan. Natürlich nicht auf dem Grab ihres kürzlich verstorbenen Mannes. Das wäre pietätlos. Neben dem Grab würde ihr reichen. Ein Anflug von Reue begleitete diesen ungebührlichen Gedanken und Olivia stiegen Tränen in die Augen. Allein die Vorstellung, dass jemand ihre wahren Gefühle erraten könnte, versetzte sie in Angst und Schrecken. Ihre komplizierte Situation zehrte an ihren ohnehin aufgewühlten Emotionen. Genauso wie das Wissen, dass die Leute, die sie beobachteten, sie verurteilten. Aber in einem Punkt würden ihr bestimmt alle recht geben - einschließlich der Männer, die mit ihrem Komplott, ihren Mann zu töten, Erfolg gehabt hatten: Charles Aberdeen war einer der gemeinsten Männer der Welt gewesen, ohne jede Moral oder Ethik oder Loyalität zur Konföderation. Sie hatte Charles nie den Tod gewünscht. Aber ab dem Moment, in dem sie vor Gottes Augen seine Frau geworden war, hatte sie sich gewünscht, aus dieser Ehe befreit zu werden. Die Ehe mit Charles hatte ihr Vater als eine der letzten Entscheidungen seines Lebens arrangiert - eine unauflösbare Partnerschaft, wie er erklärt hatte. Und Olivia wusste von Anfang an, dass sie kein Recht hatte, das zu scheiden, was Gott, wenn auch ohne ihre Zustimmung, zusammengefügt hatte. Aber anscheinend hatte am Ende doch Gott diese Arbeit übernommen und sie mit großer Präzision und Endgültigkeit ausgeführt. Olivia war darüber so erstaunt, dass sie trotz einiger Zweifel in den letzten Tagen angefangen hatte, sich zu fragen, ob Gott vielleicht wirklich alles hörte, auch das stumme Flüstern einer verzweifelten Seele. Diese Möglichkeit brachte ihr einen gewissen Trost, aber noch stärker ein Gefühl des Unbehagens, wenn sie daran dachte, wie wenig sie in Wirklichkeit über Gottes Wesen wusste. Sie hatte versucht, ihrem verstorbenen Mann die bestmögliche Frau zu sein, und so belohnte Gott ihre Mühen. Eine Truhe habe ich schon aufgeladen, Mrs Aberdeen. Aber wo sind alle anderen, Madam? Olivia richtete sich in der Kutsche höher auf und versuchte sich an den Namen des Dieners zu erinnern. Er war nur geschickt worden, um sie abzuholen. Ich nehme lediglich diese eine Truhe mit, Jedediah. Alles, was ich brauche, hat darin Platz. In der Truhe war tatsächlich nichts, was ihr Schwager ihr mitzunehmen verboten hatte. Er war zum alleinigen Erben des Vermögens ihres Mannes eingesetzt worden. Ihm gehörte jetzt jeder Cent, den Charles damit erworben hatte, dass er fast jeden, den sie kannten, belogen, betrogen und getäuscht hatte. Selbst ihre Freunde, wie sich herausgestellt hatte. Diese Freunde, die dank Charles älterem Bruder, dem letzten Nachkommen der Familie Aberdeen, jetzt glaubten, sie habe die ganze Zeit über die dunklen Geschäfte ihres Mannes Bescheid gewusst. Sie hatte jedoch keine Ahnung gehabt. Eines konnte man über Charles Aberdeen sagen: Bei ihm hatte es kein Ansehen der Person gegeben, wenn es darum gegangen war, andere Leute zu übervorteilen. In dieser Hinsicht war er nicht anders als diese Sympathisanten der Union oder die Leute aus den Nordstaaten gewesen, die auf Kosten der Südstaatler reich werden wollten. Olivia hätte ohnehin nichts von dem gewollt, was ihr Mann in seiner Habgier und Verlogenheit angehäuft hatte. Nicht einmal den Ehering, ein Familienerbstück, das Charles Bruder von ihr zurückgefordert hatte. Jedediah schaute mit gerunzelter Stirn zu ihr hinauf. Sie fragte sich, ob er wusste, wie es um sie stand, ob er vielleicht die Zeitung gelesen hatte, falls er überhaupt lesen konnte. Aber sie war nicht bereit, ihm irgendetwas zu erklären. Alles ist gut, versicherte sie ihm und warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand. Wenigstens würde bald alles gut werden. Tante Elizabeth würde ihr sicher helfen, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Die Kutsche senkte sich auf die Seite, als Jedediah auf den Fahrersitz kletterte, und Olivia warf einen letzten Blick auf das schöne zweistöckige Ziegelhaus, das für sie nie ein Zuhause gewesen war. Etwas in ihr erstarrte, und obwohl es lächerlich war, hätte sie schwören können, dass sie hörte, wie Mörtel kratzend auf Ziegel gestrichen wurde. Die Mauer, die sie um ihr Herz herum hochgezogen hatte, wurde gerade um eine weitere Reihe Ziegelsteine erweitert. Eine Mauer, die schützend zwischen ihr und jeder vergossenen und nicht vergossenen Träne stand. Jedem nicht befriedigten Bedürfnis. Jedem harten Wort, jedem Blick und jedem Schlag, den ihr gut aussehender Mann ihr versetzt hatte. Und obwohl Olivia nicht gefiel, wie die schützende Wand sie verändert hatte, wie hart sie dadurch geworden war, hätte sie doch nicht auf sie verzichten wollen. Diese Mauer sorgte dafür, dass sie nicht wieder verletzt oder betrogen wurde. Olivia hatte sich geschworen, dass ihr das nie wieder passieren würde. Jetzt wiederholte sie diesen Schwur stumm. Sie wandte den Blick von dem Haus ab, aber das war ein Fehler, denn dadurch bemerkte sie eine Frau, die keine drei Meter von ihr entfernt stand. Die Frau war alt, schwarz gekleidet und hatte eine blasse, kränkliche Hautfarbe. Ihre Augen saßen tief in ihren Höhlen und schauten Olivia unverwandt an. Die Lippen der Frau bewegten sich und Olivia wappnete sich gegen das, was sie sagen oder herausschreien würde. Oder schreien. Aber aus dem Mund der Frau kamen keine Worte, sondern etwas anderes. Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an und so verlor Olivia die Frau aus dem Blick. Aber sie hatte noch gesehen, wie die Frau sich die Spucke vom Kinn wischte. Olivia saß äußerlich regungslos da und sah starr nach vorne, während die Kutsche über die Furchen der vom Regen ausgewaschenen Straße holperte. Absichtlich schaute sie weder nach links noch nach rechts. In einem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel war ausführlich darüber berichtet worden, dass Charles gesamtes Vermögen an seinen Bruder übergegangen war. Die Leute wussten also zweifellos über ihre Umstände Bescheid. Aus den Reaktionen schloss sie, dass viele den Eindruck hatten, dass Olivia ihre gerechte Strafe bekam. Sie fuhren zuerst durch die Elm Street, dann durch die Pine und Poplar Street. Endlich wurde die Zahl der neugierig gaffenden Passanten weniger. Charles. Eine verräterische Träne kullerte Olivia über die Wange, aber sie wischte sie unwirsch weg, denn sie war nicht bereit, auch nur eine weitere Träne der Trauer über diesen Mann zu verlieren. Sie vermisste ihn nicht. Wieso also verspürte sie diese Leere in ihrem Inneren? Während sie darüber nachdachte, dämmerte es ihr allmählich und, so schwer es ihr auch fiel, gestand sie sich ein, was sie fühlte. Obwohl sie Charles nicht geliebt hatte, vermisste sie trotzdem, was sie miteinander hätten haben können, wenn er ein anderer Mensch gewesen wäre. Die Kutsche fuhr an einer Schule vorbei, an der sie oft sehnsüchtig vorbeigegangen war. Aber sie hatte sich nicht nach dem gesehnt, was die meisten Frauen sich...

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