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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783887472580
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 22 x 14.8 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Karin Petersen schreibt über die plötzliche Konfrontation mit dem Sterben der Eltern. Und damit auch über die Begegnung mit großen Fragen oder Rätseln, nicht nur was deren Rolle als Eltern betrifft. Wie begreift man aber so ein Leben? Vielleicht in einem nicht nur traurigen Abschiednehmen von vertrauten oder rätselhaften Redensarten und Gesten, nie ausgesprochener Sehnsucht, von schönen oder auch schmerzlichen Momenten. Und dabei wächst eine vorsichtige Ahnung: je näher man einem Menschen kommen will, gerade auch einem 'nahe stehenden', umso rätselhafter und spannender wird sein Leben, die ganze Kette von Zufällen, von großen und kleinen Entscheidungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Ängsten, Kompromissen und Sturheit, manchmal auch von Zuneigung und Liebe. Ein Rätsel, dem man sich nur stellen kann, indem man es wahrnimmt, anerkennt und ihm dadurch etwas Zerbrechliches gibt: Würde.Dramaturgisch gekonnt entwirft der Roman in perspektivisch wechselnden Passagen, in Dialogen, Brieftexten und historischen Momentaufnahmen ein Bild zweier Menschen, die in der gleichen Zeit, der Zeit des Zweiten Weltkriegs, aufwachsen, davon aber ganz unterschiedlich geprägt werden. Zwei Menschen einer Generation, die ihre Jugend, ihre Träume und Wünsche kaum ausleben konnte und sie oft für ein ganzes Leben in sich begrub.

Autorenportrait

Karin Petersen, 1950 geboren, Studium der Germanistik und Politologie, von 1976 bis 79 Redakteurin der Frauenzeitschrift 'Courage', 1980 bis 1984 'Lehr- und Wanderjahre': wiederholte längere Aufenthalte in Indien und den USA, Ausbildungen in verschiedenen Formen von Meditation und Yoga, Arbeit als Putzfrau, Gärtnerin, Schreibkraft in diversen Büros, Familienhilfe, Hauswartsfrau. Seit 1984 Leitung von Workshops für kreatives Schreiben für Kinder und Erwachsene. Lebt als Übersetzerin aus dem Englischen und Autorin in Berlin. 1978 erscheint ihr erster Roman 'Das fette Jahr', 'Reisen ist Rückkehr', 1984.

Leseprobe

EinsWir bewegen uns in einer Wolke aus Rauch und Licht, meine Mutter und ich. In den Herbstgärten, an denen wir vorbeikommen, schwelen Kartoffelfeuer, in deren Qualm die Sonne aufleuchtet. Das schwarze Kraut der geernteten Kartoffeln verbrennt zu dichten Schwaden, deren beißender Gestank uns in die Nase steigt. Ich schiebe sie vor mir her, meine Mutter, sie könnte mein Kind sein, ein schmollendes Kind. Ich sehe es ihrem Rücken an, dass sie schmollt, dem seitwärts geneigten Kopf, der tut, als sei er aufgeschlossen für alles, was den Augen am Weg begegnet. Diese Aufgeschlossenheit soll mir zeigen, dass meine Mutter vergessen kann und vergessen hat, wer hinter ihr geht und sie im Rollstuhl schiebt. Die herbstlichen Gärten mit dem vernebelten Farbfeuerwerk der Astern und Dahlien, der sonnenbeschienene Fluss, der durch die Rauchschwaden schimmert, die niedrig gestuften Fassaden der Fachwerkhäuser, aus denen die Kirchturmspitze ragt, Herr Fricke, der uns, auf seine Forke gestützt, durch den Qualm über den Gartenzaun grüßt - all das, so sagt die Körperhaltung meiner Mutter, ist wichtiger, sehenswerter, willkommener als die, die hinter ihr geht. Ich weiß nicht, warum meine Mutter mit mir schmollt. Ich habe es gar nicht mitbekommen, gesagt hat sie mir nichts. Es braucht nicht viel in diesen Tagen, um ihren Unmut zu wecken, den sie wie immer und wohl schon - soweit ich das wissen kann als ihre Tochter - ihr Leben lang äußert, indem sie schweigt. Schweigt mit diesem leidvollen Ernst im Gesicht, der besagt, dass sie an jedem Leid, das sie stumm mit sich selbst ausmacht, ohne anderen damit zur Last zu fallen, nur wachsen kann als Mensch. Vielleicht habe ich ihr den Hut zu grob aufgesetzt. Vielleicht habe ich den Rollstuhl im Pflegeheim zu schnell an Magda vorbeigeschoben, Mutters Zimmermitbewohnerin, die mit ihrer hohen, albernen Stimme gern ein Schwätzchen mit mir hält. Vielleicht wollte Mutter etwas von mir, das ihr dringend und wichtig war, und hat es mir nicht gesagt; doch hat sie vergessen, dass sie es mir nicht sagte, und grollt mir, weil ich nicht darauf eingegangen bin. So etwas passiert in diesen Tagen, vielleicht passiert es schon länger, doch hat es mich bislang nicht erreicht. Vielleicht habe ich bislang darüber gelächelt, denn wie soll ich nicht lächeln über eine, die das Gesicht leidvoll verzieht, weil sie glaubt, eine Absage bekommen zu haben für etwas, das sie nie geäußert hat? Jetzt lächele ich nicht mehr über meine Mutter; es erreicht mich, wie sie so ist. Es verwirrt mich, ich verfange mich in ihren Netzen. Ich verstricke mich so in Mutters Verwirrung, die für sie gar keine ist, weil für sie Getanes und nicht Getanes gleich wirklich sind, dass ich selbst nicht mehr weiß, was ich gesagt und getan habe und ob das, was ich fühle, einen Boden hat in der Wirklichkeit. Ja, auf einmal erreicht es mich, wie meine Mutter so ist. Wo ich sonst nachsichtig über sie lächelte, weil sich ihr Geist verwirrt, wie man so sagt, bin ich jetzt traurig, weil sie mich nicht wahrnimmt als ihre Tochter, die sie im Rollstuhl durch den beißenden Qualm der Herbstfeuer schiebt, der uns die sonnige Sicht vernebelt auf den Fluss, die Berge, die Häuser und den Kirchturm der Stadt. Obwohl ich hinter ihr gehe, sehe ich meine Mutter von vorn. Ich weiß, wie ihr Gesicht aussieht, wenn ihr Rücken sich so spannt wie jetzt und sie den Kopf vorbeugt, um ihre Hände im Schoß zu betrachten und vielleicht an den Nagelhäutchen zu zupfen. Ihr kleines, altes Gesicht mit dem weich geschwungenen Mund und der scharfen Nase, von den Pflegerinnen trotz meiner Ermahnungen zu dick eingecremt, glänzt vor Sorge. Einer Sorge, so schwer, dass sie ihren Kopf nach unten zieht und ihr wie eine Flüssigkeit aus dem Gesicht in den Schoß tropfen könnte. Die Stirnfalten, die den Schwung der Brauen nachzeichnen, sind hochgezogen, die Augen leicht aufgerissen, als sähen sie etwas, das sie erschreckt und doch nicht erschrecken darf. Wie nach einem Seufzer, der eigentlich nicht hätte sein d

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