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Arbeiter in der Moderne

Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen

Erschienen am 15.09.2015, 1. Auflage 2015
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593503400
Sprache: Deutsch
Umfang: 285 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 21.4 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Ein mühsam erkämpfter Mindestlohn in Deutschland, Sklavenarbeit beim Bau der Stadien zur Fußballweltmeisterschaft in Katar, katastrophale Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken Südostasiens: Die Errungenschaften der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegungen sind heute in vielen Regionen der Welt bedroht, noch nicht einmal in Ansätzen durchgesetzt oder in der breiteren Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten. Ein Blick zurück in die Geschichte der Arbeiterinnen und Arbeiter, ihrer Arbeitsbedingungen, ihrer Verhaltensweisen und Werte, ihrer Lebenswelt und ihrer Organisationen macht deutlich, wie langwierig und kontextgebunden die Bemühungen des heterogenen Kollektivs von Arbeiterinnen und Arbeitern im 19. und 20. Jahrhundert waren, um in der Welt des modernen Kapitalismus ihre Interessen vertreten zu können. Zentrale Aspekte der Arbeitsgesellschaft im 21. Jahrhundert bekommen aus dieser Perspektive eine historische Tiefenverortung.

Autorenportrait

Jürgen Schmidt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg 'Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive' an der HU Berlin.

Leseprobe

Einleitung Arbeit, Arbeiter, Arbeiterbewegung, Arbeitergeschichte - das klingt wie die Steigerungsform eines Verschwindens. Arbeit, körperliche Arbeit, spielt in den europäischen Gesellschaften eine immer geringere Rolle. In Großbritannien, dem Pionierland der Industrialisierung, sind Arbeitsplätze in der Industrie fast völlig verschwunden. 2,7 Millionen registrierte Arbeitslose in Deutschland 2015, rund zwanzig Millionen im Euro-Raum der Europäischen Union im Sommer 2013 deuten darauf hin, dass Arbeit nicht für alle vorhanden ist. Die Bezeichnung "Arbeiter" wirkt in unserer Mittelstands- und Angestellten-Gesellschaft geradezu antiquiert. Kannte bis vor wenigen Jahren das deutsche Tarifsystem noch die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten, so ist bei den letzten Reformen diese tarifliche Differenzierung aufgelöst worden. In Deutschland werden in einer von Technik und Elektronik beherrschten Industrie keine Automechaniker - ein Begriff, der das Manuelle der Arbeit noch mitschwingen lässt - mehr ausgebildet, sondern Kraftfahrzeugmechatroniker. Und die Arbeiterbewegung scheint in ritualisierten Formeln von 1.-Mai-Demonstrationen oder medial inszenierten Tarifkonflikten erstarrt. Die beiden politischen Parteien in Deutschland, die "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" sowie "Die Linke", die sich in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung sehen, begingen politischen Selbstmord, würden sie sich als bloße Interes-senvertreter der Arbeiterschaft definieren. Schließlich spielte in der Ge-schichtswissenschaft die Erforschung der Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in den letzten zwanzig Jahren eine geringe Rolle. Das ist die eine Seite, es gibt aber auch die andere. Überwindet man, erstens, die deutsche und europäische Perspektive und verschafft sich einen globalen Überblick, bleibt von dem scheinbar eindeutigen Auflö-sungsprozess nichts übrig. Arbeitergeschichte boomt beispielsweise in Indien und Lateinamerika. Zum einen zeigte das Plantagensystem in den Kolonien die Ausbeutung von Arbeitskraft in all ihrer Brutalität. Unfreie Arbeit ließ sich unter diesen Arbeitsbedingungen als Kategorie in vielfa-cher Weise analysieren. Die jüngere Forschung ging so in diesen Regionen neue Wege und suchte nicht nach Klassen im europäischen Sinn, sondern analysierte die kulturellen Bedingungen und Reaktionen der Arbeiterschaft im kolonialen Kontext. Zum anderen lenkten die aktuellen Entwicklungen in den außereuropäischen Regionen, in denen Arbeitsverhältnisse im informellen Sektor gang und gäbe sind, den Blick auf Arbeitsformen jenseits regulierter und normierter europäischer Lohnarbeit in Fabriken oder Werkstätten. Eng verbunden mit diesen Entwicklungen ist, zweitens, ein Faktor, der die Geschichte der Arbeiter in der Moderne attraktiv und anschlussfähig für neuere Trends in der Geschichtswissenschaft macht. Die zunehmende globale Verflechtung von Menschen, Strukturen, Organisationen und Ent-wicklungen verhalf globalgeschichtlichen Ansätzen und Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren zum Durchbruch. Ar-beitergeschichte fügt sich in dieses Forschungsparadigma auf mehrfache Weise ein. Auf den Export von europäischen Arbeitsformen und -prozessen in die koloniale Welt wurde bereits hingewiesen. Arbeiter waren darüber hinaus in der Moderne hochmobil und überwanden dabei oft regionale und nationale Grenzen. Außerdem dachte die Arbeiterbewegung stets international (auch wenn sie in entscheidenden Situationen oft national handelte). Zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten sind hier also für die Arbeitergeschichte gegeben. Die Krise der Arbeitsgesellschaft, sei es in Form des Arbeitsmangels (wie seit den 1970er-Jahren prophezeit und bis heute erlebt) oder in Form des Arbeitskräftemangels (wie es die neuesten Zukunftsszenarien an die Wand malen), forcierte sozialwissenschaftliche Fragestellungen zur Welt der Arbeit. Dies bietet, drittens, die Möglichkeit zum interdisziplinären Austausch mit den Sozialwissenschaften, der in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Untersuchungen zu Inklusions- und Exklusionspro-zessen in modernen Gesellschaften, zum Verhältnis von Arbeiterbewegung und sozialen Bewegungen, aber auch lebensweltliche oder biografische Fragen erlauben hier die Zusammenarbeit. Zudem gewinnen mit der Krise des Kapitalismus wieder das Nachdenken über Alternativen und die Frage nach historischen Vorläufern der Kapitalismuskritik an Bedeutung. Die Arbeitergeschichte entwickelte sich, viertens, im vereinten Deutschland selbst weiter und zeigte sich offen für neue Ansätze. Zwei Trends zeichnen sich ab. Zum einen erlebte sie eine kulturgeschichtliche Erweiterung, die sich in zahlreichen Spielarten niederschlug und ge-schlechtergeschichtliche, körpergeschichtliche sowie kommunikationsge-schichtliche Aspekte integrierte. Zum anderen verortete die Forschung die Arbeitergeschichte gesellschaftsgeschichtlich neu. Das Verhältnis von Arbeiterschaft und Bürgertum beispielsweise wurde nicht länger nur als antagonistisches Klassensystem verstanden, sondern in seiner Verflechtungsdimension der Kontakte und Kommunikation, der Zusammenarbeit und Abstoßung wahrgenommen. Damit im Zusammenhang steht der Versuch, die Arbeiterbewegung als zivilgesellschaftlichen Akteur zu begreifen. Die Einbettung der Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in den gesellschaftlichen Kontext war schon immer die Stärke dieser For-schungsrichtung. Arbeitergeschichte ist daher im besten Falle ein Einstieg in die Analyse moderner Gesellschaften. In ihrer Erweiterung ist sie dabei keineswegs auf abstrakte wirtschaftliche und soziale Strukturen und Pro-zesse beschränkt, sondern bezieht das Individuum in seinen multiplen Identitäten in die Analyse mit ein. Ein Arbeiter ist nie nur Arbeiter - er ist Jugendlicher oder Familienvater, Protestant, Katholik oder Moslem, er ist Bayer, Preuße oder Badener, Deutscher, Kenianer oder Inder, zugewanderter "Gastarbeiter" in Deutschland, Katar oder Großbritannien; und vom geschlechterspezifischen Unterschied zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern hingen maßgeblich Verhaltensweisen und Identitäten innerhalb der Arbeiterschaft ab. Diese Verortung der Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert soll in diesem Buch in Form einer Einführung geleistet werden. Angesichts der komplexen und zahlreichen Facetten des Themas wird der Schwerpunkt der Darstellung auf der Entwicklung in Deutschland (in seinen unterschiedlichen politischen Ausprägungen) liegen - wobei, wenn es möglich ist, über die nationalen Grenzen hinaus geblickt wird. Dies bietet den Vorteil, Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte nicht entlang abstrakter Modelle und Idealtypen zu schreiben, sondern die konkrete Entwicklung exemplarisch nachzuzeichnen. Die Entwicklung in Deutschland steht dabei nicht als Muster oder gar Vorbild für Entwicklungen in anderen Territorien und Staaten, sondern ist - umgekehrt - eingebettet in übergreifende Zusammenhänge, an denen sich wiederum nationale und globale Spezifika erkennen lassen. Was aber sind Arbeiter in der Moderne? Zunächst zum Begriff der "Moderne", den die Publizistik zuletzt immer kritischer reflektierte. Von der ursprünglichen Verknüpfung zwischen Moderne und Fortschritt haben sich die meisten Forscher, Publizisten und Journalisten verabschiedet. Die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts haben wesentlich dazu beigetragen. Auch ein einheitlicher Entwicklungsweg hin zu einer Moderne ist obsolet. Von der "multiplen Moderne" ist die Rede; zudem gilt es Moderne zeit-räumlich zu differenzieren. Zu betonen ist die Ambivalenz der Moderne, die den grundsätzlichen Wandel sowie die damit verbundenen widersprüchlichen Implikationen einbezieht. Um ein Beispiel aus der Welt ländlicher Arbeit zu verwenden: Die per GPS gesteuerte Aussaat des Getreides und Düngung der Felder sowie die computergestützte Melkanlage für hunderte Kühe zeigen den tiefgreifenden Wandel, der als Beitrag zur Nahrungssicherung einer...