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Party im Blitz

Die englischen Jahre

Erschienen am 04.08.2003
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446203501
Sprache: Deutsch
Umfang: 248 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 20.8 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein unverblümter Text über seine Jahre in England, den sich Canetti nicht zu veröffentlichen traute: über verarmende Adlige und wirklich arme Emigranten, über eitle Dichter und schöne Malerinnen und über seine Liaison mit der später berühmten Autorin Iris Murdoch. Mit dem Nachwort des Londoner Literaturwissenschaftlers Jeremy Adler und Fotografien aus der Zeit ein wichtiges Stück zu Canettis Autobiografie.

Autorenportrait

Online-Special

Leseprobe

Als der Blitzkrieg über London begann, einige Monate nach Dünkirchen, im gefährlichsten Zeitpunkt der englischen Geschichte, erlebte ich in seinem Hause eine Party, die mir vor Augen bliebe, auch wenn ich fünfhundert Jahre danach noch am Leben wäre. Sein Haus war höher als die meisten in Downshire Hill. Es hatte drei Stockwerke, die meisten andern nur zwei. Es war aber schmal wie die andern alle. In jedem Stock waren höchstens ein oder zwei Zimmer. Sie waren von Menschen erfüllt, die tranken und tanzten. Sie standen mit den Gläsern in der Hand da, wie es hier Sitte war, aber mit ausdrucksvollen Gesichtern, was hier gegen die Sitte ging. Es waren manche junge Offiziere in Uniform darunter, lebhaft, ja beinah lebenslustig, von lauten Sätzen überquellend, die man gehört hätte, wenn sie in der Musik nicht untergegangen wären. Die Tanzenden, besonders die Frauen, hatten etwas Aufgerissenes und genossen ihre Bewegungen wie die des Partners. Die Atmosphäre war dicht und heiß, und niemand kümmerte sich darum, daß man Bomben-Einschläge hörte, eine furchtlose und dabei sehr lebendige Gesellschaft. Ich hatte im obersten Stock begonnen, ich traute kaum meinen Augen und ich ging in den zweiten hinunter und traute ihnen noch weniger. Jeder Raum schien feuriger als der, in dem man sich vorher umgetan hatte. In den tieferen Räumen sonderte man sich etwas mehr ab, Pärchen saßen und hielten einander umarmt, die Musik durchdrang uns heiß von oben bis unten, man gab sich mit Umarmungen und Küssen zufrieden, nichts wirkte lasziv, im Basement, wie man hier das Untergeschoß nannte, geschah das Erstaunlichste. Die Türe nach außen wurde aufgerissen, Männer in Feuerwehrhelmen griffen nach Kübeln mit Sand, die sie im Schweiß ihres Angesichts in größter Geschwindigkeit hinaustrugen. Sie achteten auf nichts, das sie im Raum vor sich sahen, in ihrer Eile, die brennenden Häuser in der Nachbarschaft zu schützen, griffen sie wie blind nach den sandgefüllten Kübeln. Es muß eine Unzahl davon gegeben haben, die Paare, es waren hier unten nicht ganz so viele, hielten sich weiter umschlungen, niemand sprang auf, kein Mensch löste sich vom andern, es war, als ginge sie das keuchende, verschwitzte Treiben überhaupt nichts an, zwei verschiedene Tierarten, die einander aus dem Wege gingen, so schien es, aber dieser Anschein trog, denn die Feuerwehr an diesem Abend bestand aus Freiwilligen derselben Straße, unter ihnen der eine oder der andere junge Dichter, die ich in solchen Leibesmühen nie erkannt hätte. Es ist zu sagen, daß Luftangriffe zu dieser Zeit noch keineswegs dasselbe waren wie in späteren Perioden (wie auf deutsche Städte etwa, die ganz vernichtet wurden), es war etwas, dessen Schrecken eigentlich nur darin bestand, daß man es noch kaum kannte. Ich verließ das Haus, nach vielleicht einer Stunde, ich war weder in Angst noch Empörung: wohl waren mir die unerschütterlichen Liebespaare neben den keuchenden Feuerwehrmännern peinlich, aber da diese nicht die geringste Verwunderung zeigten, sie stürzten hinein und wieder hinaus, sie trachteten nicht aneinanderzustoßen, daß sie einander nicht behinderten, war ihnen so wichtig wie den sich umklammernden Paaren, daß sie nicht voneinander ließen. In beiden war Entschlossenheit, ich staunte über diese Selbstbeherrschung der Engländer, die sich von nichts und niemand beirren lassen, schämte mich für meine Scham und begann zu ahnen, worin eigentlich der Puritanismus der Engländer bestand, den ich immer bewundert und gefürchtet hatte. Leseprobe

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