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Schwester und Bruder

Erschienen am 03.01.2006
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442733248
Sprache: Deutsch
Umfang: 222 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 18.8 x 12 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Während Martha in Deutschland studiert und den Eltern eine brave Tochter ist, unternimmt der Bruder eine ausgedehnte Reise durch Indien. Nach einem Jahr kehrt er verändert zurück. Er hört auf zu essen, erkrankt und erblindet schließlich. Die Ärzte sind ratlos. Nur noch einer könnte helfen: der geheimnisvolle Mönch aus Indien. Martha überwindet sich, den Bruder auf seiner Reise zu begleiten, und führt ihn auf der Suche nach dem Geheimnis, das zwischen ihnen selbst liegt.

Leseprobe

Mein Bruder war nicht zurückgekommen. Das Jahr verging, er rief an, sagte, er bleibe ein weiteres. Der Anruf dauerte nur ein paar Sekunden. Das zweite Jahr begann. Auf meinen Brief erhielt ich nie eine Antwort. Nach ein paar Monaten rief er wieder an. Er komme jetzt zurück. Wir umarmen uns. Die Berührung ist unbestimmt und sperrig. Ich weiß nicht, an wem das liegt. Er sieht sich kurz um, als bringe er es in Verbindung mit etwas, das von außen kommt. Die Ankunftshalle ist voller Menschen. 'Sie sind nicht da. Papa hat Elternsprechtag und Mama einen Termin beim Arzt. Wir fahren auch erst mal zu mir.' Im Auto schweigen wir. Auch früher haben wir viel geschwiegen. In dem Brief, den er nie beantwortet hat, stand: Seitdem Du weg bist, frage ich mich oft, warum wir nicht mehr miteinander gesprochen haben. Ich würde jetzt gerne mit Dir reden. Wenn Du zurückkommst, können wir das ja nachholen. Als der Schalterbeamte den Brief frankiert hatte und auf einen Haufen anderer legen wollte, verlangte ich ihn wieder zurück. Aber zwei Tage später warf ich ihn in den Briefkasten. Mein Bruder sieht aus dem Fenster, kurbelt es dann herunter. Ich sage, dass ich gerade noch erkältet war, und er kurbelt es wieder hoch. 'Danke.' Ich lächle, schaue auch zu ihm hin. Sein Haar ist nun so kurz, dass man die Kopfhaut sieht. Er war mit langen Haaren losgefahren. 'Ich wohne jetzt in einem Zimmer, vier mal fünf Meter', erzähle ich. 'Aber durch das Hochbett spare ich Platz. Ich schaue auf Fahrräder und auf die Mülltonnen dahinter. Im Sommer riecht man den Müll auch manchmal. Man gewöhnt sich daran. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Alles Jugendstil. Sogar der Aufzug. Den benutze ich aber nur, wenn ich auf dem Dachboden Wäsche aufhängen will. Das Treppenhaus ist sehr schön. Weißer Marmor, und an der Decke Stuck.' Mein Bruder nickt und lächelt ein bisschen. Ich schaue nur noch auf die Fahrbahn. An meinem Hals beginnt ein leichtes Pochen. 'Hast du meinen Brief bekommen?' 'Ich bin ständig unterwegs gewesen.' Er will nicht wissen, was in dem Brief stand. 'Hast du inzwischen den Führerschein?' 'Ich bin nicht nach Indien gegangen, um den Führerschein zu machen.' Er sagt es lächelnd, aber ich spüre, dass er verletzt ist. 'Je länger du wartest, desto schwieriger wird es.' 'Ich bin zweiundzwanzig', sagt er und sieht mich an. Seinen Rucksack stellt er vorne ab, in den kleinen Flur mit der Kochnische. Er geht in die Knie und zieht die Schuhe aus. Seine Jeans kenne ich noch von früher. Ich sage ihm das, und er sieht fragend zu mir hoch. Ob er einen Kaffee möchte. Er nickt. Ich hole die Dose aus dem Regal, blicke ihm kurz hinterher, wie er ins Zimmer verschwindet, das dunkel ist am frühen Abend, wie immer, wenn die Hofmauer einen Schatten gegen das Haus wirft. Als ich ihm nachgehe, steht er vor dem Schrank. Seine Finger streichen über das rötliche Holz. 'Er ist schön geworden.' 'Ja. Fünf Farbschichten runter, ich habe eine Woche gebraucht. Es war katastrophal.' 'In Indien habe ich einmal in einem alten Haus im Wald gelebt. Da war auch so einer.' Die Kaffeemaschine röchelt. Ich gehe zurück, mein Blick fällt auf seinen Rucksack, ich lege den Kopf schief, versuche, etwas von den abgerissenen Flughafenetiketten zu erkennen. Es sind fast nur Klebespuren übrig. Ich nehme die Tassen vom Regal, sie sind von der Großmutter, Rosenthal, aber als er sie in der Hand hält und ich ihn frage, erkennt er sie nicht wieder. Die Couch sei auch von ihr. Er nickt. Sitzt ganz links, da saß er schon als Kind. 'Ich muss weit ausholen. Ich muss da anfangen, wo alles anfing.' Ich setze mich neben ihn, er rückt zu mir, unsere Knie berühren sich fast, und seine Züge verlieren sich in der plötzlichen Nähe. Ich möchte zurückweichen, erlaube mir aber keine Bewegung. 'Etwas ist geschehen', sagt er, 'gleich zu Anfang. Und dann ist es nur noch darum gegangen. Möchtest ...

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